Von Josef Klein

„Der Mond ist aufgegangen“. Naturwissenschaftlich betrachtet ist diese Aussage falsch. Auch die Sonne geht weder auf noch unter. Wir wissen, dass nicht die Sonne sich bewegt, sondern die Erde.Wissenschaftliche Experimente haben die astronomischen Sachverhalte belegt. Und wie gültig sie sind, zeigt die Weltraumtechnik. Ich bin fasziniert, dass schon seit Jahren Menschen regelmäßig von der Erde zur Raumstation ISS hin- und zurückfliegen. Welch großartige Leistung. Aber sollen wir nicht mehr singen: „Der Mond ist aufgegangen,/ die goldnen Sternlein prangen….“ von Matthias Claudius (1740-18159), weil der Text nicht zu unserem naturwissenschaftlichen Weltbild passt?

Um die Frage zu beantworten: Mir erscheint es wichtig zu sehen, dass wir mit sprachlichen Aussagen Unterschiedliches meinen. Das heißt, Claudius will keine wissenschaftliche Aussage machen, sondern in der Sprache der Dichtung ein Empfinden ausdrücken. Das heißt auch: Wenn in der Bibel erzählt wird, Gott hat die Welt in 7 Tagen geschaffen, ist das keine wissenschaftliche Aussage. Der Text ähnelt dem Aufbau eines Liedes, in dem Gott gelobt und ihm gedankt wird für seine Schöpfung, also dafür, dass wir leben dürfen. Das Argument, die Menschen damals hätten noch nicht unser Wissen gehabt., deshalb sei die Aussage von damals heute nicht mehr gültig, überzeugt mich nicht. Denn die Menschen hatten damals neben dem Sieben-Tage-Lied eine weitere Schöpfungserzählung in der Bibel aufgeschrieben. Die beiden Erzählungen zeigen deutliche Unterschiede. So z.B. werden Mann und Frau in der einen gemeinsam (Genesis 1,27), in der anderen nacheinander (Genesis 2,22) geschaffen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen damals diese Gegensätze nicht sahen. Aber beide Schöpfungserzählungen sind sich einig darin, Gott zu loben und ihm zu danken für das, was er geschaffen hat, also dafür, dass wir leben.

Claudius verwendet in seinem Lied das Wort „wunderbar“. Das drückt eine Erfahrung aus, die viele von uns machen: In geglückten Beziehungen mit Menschen, im Urlaub und in der Natur, in Erfolgen im Beruf, in der persönlichen Weiterentwicklung. Aber wir wissen und haben es auch erfahren, dass nicht nur Wunderbares im Leben geschieht. Naturwissenschaftlich betrachtet müssten wir eher mutlos sein, wenn wir uns für einen Beruf, eine Partnerschaft, für Kinder entscheiden, von schwerer Krankheit betroffen sind. Dieses Wissen hindert viele Menschen nicht, sich hoffnungsvoll für eine ungewisse Zukunft zu entscheiden. Hinter diesen Entscheidungen sehe ich das Vertrauen, das kommende Leben werde gut. Auch in der Erfahrung von Verlust, Schmerz, Trauer und Tod helfen Vertrauen und Hoffnung auf ein kommendes gutes Leben. Diese Empfindungen sind mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht zu erfassen. Die Wissenschaften erklären unsere äußere Welt. Unsere innere Welt lässt sich mit einer Sprache in Bildern ausdrücken. Diese Bilder sind nicht wörtlich zu verstehen. Sie drücken eine vertrauensvolle Einstellung zum Leben aus. Das kennen wir aus den Songs, die täglich tausendfach abgespielt und gehört werden. Sie analysieren wir nicht mit wissenschaftlichen Methoden. Wir lassen Musik und Sprachbilder auf unsere innere Welt wirken. Dadurch entstehen Freude und Dankbarkeit, je nach Song auch Trauer und Tränen. Denn Erinnerungen werden wach und das Gespür, so etwas Schmerzhaftes möchte ich nicht nochmal erleben. Oder aber, so etwas Wunderbares könnte mir erneut geschenkt werden.

Matthias Claudius weckt in der ersten Strophe eine Erinnerung an eine harmonische Naturerfahrung und kommt über weitere Bilder zu der Schlussstrophe: Der betende, singende Mensch bittet Gott vor dem Zubettgehen vertrauensvoll um seinen Schutz; zugleich bittet er Gott um Schutz auch für seinen armen Nachbarn.

Aus: BKZ vom 29.10.2022